Das Gesundheitssystem in Deutschland zeigt zunehmend Versorgungsdefizite und Lücken gegenüber verschiedenen Personengruppen auf. Dies hat strukturell bedingte gesundheitsgefährdende Auswirkungen. So gibt es trotz gesetzlich vorgeschriebener Krankenversicherungspflicht übersehene Personengruppen, die eine gesundheitliche Versorgung nur eingeschränkt oder gar nicht in Anspruch nehmen können. Die Morbidität und die Mortalität in diesen Bevölkerungsgruppen nehmen signifikant zu.
Trotz der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (seit 2007) und privaten Krankenversicherung (seit 2009) kam die Mikrozensuserhebung laut offiziellen Angaben des Statistischen Bundesamtes (2012) zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2011 schätzungsweise 137 000 Menschen nicht krankenversichert waren. Die neueste Meldung des Gesundheitsministeriums schätzt die Zahl der nicht versicherten Personen im Jahre 2015 auf 77.500 (Pressemeldung vom 2.7.2015 des Bundesgesundheitsministeriums). Die Dunkelziffer wird weit über diesen offiziellen Daten liegen.
Eigentlich gehört das gesundheitliche Wohlergehen als auch die damit verbundene medizinische Versorgung zu den grundlegenden Menschenrechten.
Deutschland hat beispielsweise als ein Vertragsstaat des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) seit 1976 „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit [anerkannt“ (Artikel 25 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie Artikel 12 Absatz 1 UN-Sozialpakt).
Als unterzeichnender Staat des UN-Sozialpaktes hat Deutschland sich außerdem dazu verpflichtet, „... Voraussetzungen zu schaffen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen“ (Artikel 12 Absatz 2 UN-Sozialpakt).
Im Widerspruch zu diesen völkerrechtlichen Abkommen ist jedoch der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung nicht gleichermaßen für alle Personen, die in Deutschland leben, gewährleistet:
Menschen, die ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen können, sowie Asylbewerber*innen, verfügen beispielsweise nur über einen eingeschränkten Krankenversicherungsschutz. Zudem gibt es auch Gruppen, wie zugewanderte Migrant*innen oder Menschen ohne einen gültigen Aufenthaltsstatus, die keinerlei finanzielle Absicherung im Krankheitsfall besitzen und somit aus dem existierenden Gesundheitsversorgungssystem gänzlich ausgeschlossen sind.
Sozialstaatliche Sparmaßnahmen, auch im Bereich der Gesundheitsversorgung, und die damit einhergehende notgedrungene private Übernahme anfallender Kosten für medizinische Heil- und Hilfsmittel, schließen viele finanziell und sozial benachteiligte Menschen aus der medizinischen Versorgung aus.
Zudem führt der sozialstaatliche Wandel und das restriktive Vorgehen im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zusehends zu administrativen Hürden, welche für einzelne Menschen in bestimmten Lebenssituationen nicht mehr zu meistern sind. Gerade eine Überwindung dieser Hürden ist aber in der Regel notwendig, damit sozialstaatliche Hilfsmaßnahmen und damit auch eine finanzielle Unterstützung im Bereich der Krankenversicherung in Anspruch genommen werden können.
Bundesweit gibt es deshalb zahlreiche sehr heterogen konzipierte, finanzierte und organisierte Initiativen, Vereine beziehungsweise Versorgungsmodelle, die von Armut, Ausgrenzung, sozialer Benachteiligung und Diskriminierung betroffene Menschen medizinisch, gesundheitlich und sozialrechtlich versorgen und/oder beraten.
Diese Einrichtungen werden von den betroffenen Menschen in folgenden Situationen aufgesucht:
- Das vorhandene, reguläre Angebot ist für Menschen, die sich in einer prekären Lebenssituation befinden, zu hochschwellig (administrative Hürden, lange Wartezeiten, diskriminierendes Verhalten der Behörden und Einrichtungen).
- Die vorhandenen Gesetze sind sehr kompliziert, Betroffene fühlen sich verunsichert und wissen häufig nicht, in welchem Versicherungsstatus sie sich befinden.
- Behörden, Ämter und Krankenkassen machen die Betroffenen unzureichend auf ihre Rechte aufmerksam.
- Viele der Betroffenen kennen ihre Rechte nicht und können sich dementsprechend nicht auf sie berufen (beispielsweise finanzielle Unterstützung bei Hilfebedürftigkeit im Basistarif).
- Zuzahlungen und zunehmende Kosten im Gesundheitswesen, die privat getragen werden müssen, führen zu einer finanziellen Überforderung. In dieser Notlage verzichten die Menschen deshalb auf notwendige Medikamente, Heil- und Hilfsmittel.
- Hohe Beitragsschulden, die durch die Versicherungspflicht entstehen, obwohl keine Behandlung in Anspruch genommen wurde, wirken auf die Betroffenen abschreckend. Sie möchten und können nicht in die Krankenversicherung zurückkehren, ihre Versicherungspflicht anzeigen oder sich zum ersten Mal in einer KV absichern (beispielsweise ehemals privat Versicherte oder EU-Bürger*innen in prekären, von Armut bestimmten Lebenslagen).
- Ein eingeschränkter Versicherungsschutz (beispielsweise nach dem AsylbLG oder beim Ruhen der Versicherung) führt für die Betroffenen zu Versorgungslücken. Das Einklagen bestimmter medizinischer Behandlungen dauert zu lange und setzt eine Kenntnis über die Rechtslage voraus.
- Aus Angst vor Konsequenzen (drohende Abschiebung, Arbeitsplatzverlust, private Rechnungen der Kliniken an die Illegalisierten) wird die medizinische Hilfe im regulären System erst in einer absoluten Notlage in Anspruch genommen.
Kofi Annan, der siebte Generalsekretär der Vereinten Nationen (1997 - 2006) sagte während seiner Amtsperiode: "Gesundheit sollten wir uns nicht nur wünschen, sondern als Recht erkämpfen.“ Viele Menschen müssen diesen Kampf in Deutschland führen, obwohl sie krank, sozial benachteiligt und ausgegrenzt sind. Oder gerade weil sie dies sind.